Unsichtbar, unbekannt, ungezählt

In Neuss gibt es immer mehr Obdachlose. Das sieht jeder, der regelmäßig durch die Innenstadt geht. Und trotzdem leben viele Menschen ohne Wohnung im Verborgenen: Unsichtbar, unbekannt, ungezählt.

Ein Morgen im März. Der Winter ist zurück, eine Schneedecke liegt über Neuss. Der Himmel ist bedeckt, es wird gar nicht richtig hell. Es ist kalt und regnerisch. Aber das ist heute ein Luxusproblem. Denn am Abend treffe ich Menschen, die nicht im geheizten Büro sitzen, sondern den ganzen Tag draußen auf der Straße verbringen. Weil sie obdachlos sind, kein Zuhause haben.

Seit gut vier Monaten verteilt die muslimische Ahmadiyya-Gemeinde jeden Abend warme Mahlzeiten an Obdachlose. Heute sind wir verabredet. Ich darf dabei sein, mitgehen, selber Essen verteilen. Und Einblicke bekommen in eine Welt, die kaum einer sieht, vielleicht kaum jemand wirklich sehen will.

Wir treffen uns um halb Sechs: zwei Gemeindemitglieder, Alex und Sabrina (beide Mitarbeiter eines Sanitätsdienstes) und ich. Zuerst steuern wir die „Hin- und Herberge“ an. Das städtische Wohnheim bietet bis zu 50 obdachlosen Männern ein Bett, Duschen, Toiletten, eine Küche und einen Aufenthaltsraum. Tagsüber bleibt die Herberge geschlossen. Wenn die Schlafgäste abends nach einem langen und kalten Tag ankommen, freuen sie sich über eine warme Mahlzeit. Wir liefern eine große Box mit Speisen ab.

Bevor es im Zentrum weitergeht, darf ich die Mahlzeit des Tages testen: Nudeln mit Hähnchenbrust in einer Paprika-Sahne-Soße. Sehr lecker! Das Essen bereiten Mitglieder der Gemeinde zu. Zuhause in der Küche, ohne professionelle Hilfe. Und ohne, dass sie Spenden oder Geld von anderen annehmen. Täglich stellen sie zwischen 50 und 75 Portionen her. Dieses Engagement beeindruckt mich wirklich!

Inzwischen ist es 18 Uhr, die Innenstadt leert sich. Berufstätige haben Feierabend, Kunden treten den Heimweg an. Auch Bettler ziehen sich mit ihren Tageserlösen zurück. Wer jetzt noch in der Stadt und auf der Straße ist, der bleibt. Und zwar die ganze Nacht.

Ausgestattet mit einer vollen Thermobox, Getränken und Süßigkeiten machen wir uns auf den Weg. Vor dem Aldi-Markt begegnen uns die ersten Hungrigen. Ich merke schnell: Man kennt sich. Und so steuern wir gezielt Plätze an, wo Obdachlose sich aufhalten. Viele erwarten uns schon. Zum Beispiel an einer Bushaltestelle, gegenüber der Sparkasse, auf dem Markt.

Auch auf der Sebastianusstraße treffen wir vier Hungrige, sie freuen sich über das warme Essen und wir kommen kurz ins Gespräch. Ganz ehrlich: Wenn ich hier alleine vorbeigegangen wäre, hätte ich sie gar nicht bemerkt. Ich lerne: Obdachlose sind nicht immer nur die „Penner“, die wir als Prototyp vor Augen haben: ungepflegt und stark alkoholisiert, oder mit in einem Schlafsack im Hauseingang liegend. „Obdachlosigkeit“, erzählen meine Begleiter, „kann heutzutage jeden treffen.“ Alex bringt das Beispiel von einem Juristen, der in kürzester Zeit abgestürzt ist: Job weg, Wohnung weg, obdachlos.

Wenige Meter weiter treffen wir auf ein Paar, Männlein und Weiblein. Mit Decken und Kerzen schützen sie sich gegen die Kälte. Die beiden leben auf der Straße, weil es in Neuss keine Obdachlosenunterkunft gibt, die sie gemeinsam aufnimmt. Solch ein Fall ist in den Vorschriften offensichtlich nicht vorgesehen. Unsägliche Bürokratie!

In der Nähe des Stadtbades gehen wir zu einem Menschen, der sich im Hintereingang eines Warenhauses eingerichtet hat. „Den habe ich doch vor langer Zeit schon einmal gesehen“, sage ich spontan. „Ja“, bestätigen die anderen. „Er lebt schon etwa ein halbes Jahr lang hier.“ Mir bleibt die Sprache weg.

Wegen des Dauerregens sind die Straßen heute leerer als sonst. Manch einer hat anderswo Zuflucht gesucht. Stichwort anderswo: Meine Mitstreiter berichten, dass auch außerhalb der Innenstadt zahlreiche Obdachlose leben, zum Beispiel am Rhein oder in Parks.

Wir gehen noch einmal durch den Hauptbahnhof und kehren dann langsam zum Startpunkt zurück. Auf dem Rückweg überlegen wir, welche Hilfen die Neusser Obdachlosen brauchen. Mehr Streetworker, die sich kümmern? Einen Kältebus? Medizinische Versorgung?

Diese Frage wird mich in Zukunft mit Sicherheit noch beschäftigen. Für heute nehme ich erst einmal drei Gedanken mit: Ich bin

  • erschrocken über die vielen Obdachlosen und ihre armseligen Lebensverhältnisse. Mir ist klar geworden: Obdachlosigkeit hat viele Gesichter. Und die meisten sehen wir auf den ersten Blick nicht.
  • dankbar für die Menschen, die sich täglich um Obdachlose kümmern, ihnen Essen oder andere lebensnotwendige Dinge wie Kleidung und Hygieneartikel bringen.
  • entschlossen, mehr gegen Obdachlosigkeit zu tun. Vor allem brauchen wir endlich wirksame Ansätze, um Obdachlosigkeit zu verhindern. Ein festes Dach über dem Kopf ist das Grundbedürfnis jedes Menschen. In einer sozialen Großstadt wie Neuss darf es daran nicht fehlen!

Beispielfoto: pixabay

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